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"Das ist ja alles Brecht!": Der Jahrhundertfund von Zürich

Dunja Welke15. August 2006

Es ist eine seltene Überraschung, dass 50 Jahre nach dem Tod eines Dichters noch bedeutende unbekannte Texte und Briefe auftauchen. Im Falle Bertolt Brechts ist es so.

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Brief von Bertolt Brecht an Helene WeigelBild: Akademie der Künste

Bereits 1933 musste der Theaterautor, Regisseur, Lyriker und Essayist Deutschland verlassen. Brecht bekämpfte von Anfang an die Nationalsozialisten und seine Frau Helene Weigel war Jüdin. Skandinavien, Amerika, die Schweiz - das sind die Stationen seines Exils. 1949 kehrte er in die Heimat zurück. Im sowjetisch besetzten Teil Berlins begann er mit seiner praktischen Inszenierungsarbeit, die den Ruhm des "Berliner Ensembles" bis heute begründete. Mit 58 Jahren starb er 1956 in Ostberlin. Am 14. August jährte sich sein Todestag zum 50. Mal.

Verwahrt und vergessen

In der Schweiz machte Brecht 1947/48 Zwischenstation auf dem Weg heim vom amerikanischen Exil nach Deutschland. Dort, am Zürichsee, sind vor einigen Jahren hinterlassene Manuskripte, Briefe und andere Materialien entdeckt worden, die sensationell zu nennen sind. Zuvor hatte man geglaubt, der Nachlass des meistgespielten deutschsprachigen Dichters der Welt sei längst vollständig. Bei dem Fund handelt es sich um Manuskripte von Brecht und anderen Autoren, um seine Notizbuchblätter, Verträge, Dokumente, Pässe, Scheckhefte, Rechnungen und Briefe von ihm und an ihn. Dies alles hat der damals 51-jährige Bertolt Brecht dem befreundeten Gewerkschaftsfunktionär und Grafiker Victor N. Cohen wahrscheinlich 1949 in Goldbach am Zürichsee zum Aufbewahren gegeben, als er die Schweiz in Richtung Berlin verließ. Cohen, ein linker Sozialdemokrat und Werbefachmann, der Artikel für Gewerkschaftszeitungen schrieb und sozialdemokratische Wahlkampagnen und Volksbegehren bewarb, starb 1975.

"Das ist ja alles Brecht!"

Doch erst Ende der 1990er Jahre wurden seine Söhne auf die wertvolle Hinterlassenschaft aufmerksam. Der Leiter des Brecht-Archivs, Erdmut Wizisla, kennt die Umstände der spektakulären Entdeckung. "Man musste die Lagerhalle, in der die Sachen zuletzt gewesen sind, räumen, weil da ein Mietvertrag auslief. Und da waren eben noch Dinge aus dem Nachlass von Victor dabei. Man öffnete das und dachte: Donnerwetter! Das ist ja alles Brecht! Und man öffnete die nächste Kiste und fand wieder - alles Brecht."

Brechts finnischer Paß
Brechts finnischer PassBild: Akademie der Künste

Im Vorfeld des 50. Todestages gaben die Akademie der Künste in Berlin und das zu ihr gehörende 1956 gegründete Brecht-Archiv bekannt, dass der Jahrhundertfund erworben werden konnte. Der Erwerb ist der bedeutendste Zuwachs seit Gründung des international renommierten Archivs, das jährlich von zweihundertvierzig Forschern genutzt wird. Die Verhandlungen dauerten acht Jahre lang. Sie konnten erfolgreich abgeschlossen werden, weil die Stiftung Deutsche Klassenlotterie, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Akademie der Künste sich zur gemeinsamen Finanzierung entschlossen hatten. 2500 Blatt, das entspricht einem Fünftel des gesamten literarischen Nachlasses, und eine Schreibmaschine umfasst der nun als "Bertolt-Brecht- Sammlung Victor N. Cohen" bezeichnete Teilnachlass.

Helene Weigel, die nach dem frühen Tod ihres Mannes den Nachlass akribisch zusammentrug, hatte die Schweizer Hinterlassenschaft offenbar aus den Augen verloren. Und Bertolt Brecht hatte die Materialien nach seiner Deutschlandrückkehr nicht vermisst. Sie dokumentieren vor allem die Schweizer Jahre 1947/48 und Brechts Züricher Kurzaufenthalt 1949, aber auch das amerikanische Exil seit 1941 und mit einigen wenigen Materialien frühere Lebensphasen.

Neues und Spektakuläres

Zur Schweizer Entdeckung gehört durchaus Spektakuläres. Da sind bislang unbekannte Texte wie zwei Fassungen des Stücks "Der kaukasische Kreidekreis", mehrere Erzählungen, ein Romanprojekt, politische und theaterpraktische Aufsätze. Darunter befindet sich auch der Prosatext "Mein unvergesslichster Charakter", in dem Brecht, ähnlich wie im Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", Hitler karikiert.

Desweiteren engagierte sich Brecht - wie der Fund belegt - im amerikanischen Exil für den "Council for a Democratic Germany". Dieser "Verein deutscher Emigranten" war als Reaktion auf das in der Sowjetunion gegründete "Nationalkomitee Freies Deutschland" im Mai 1944 in den USA entstanden. Er verfasste Stellungnahmen und Briefe, in denen er Prominente wie Alfred Döblin für die Zusammenarbeit gewinnen wollte. Das "Council" war ein zeitweiliger Zusammenschluss, der sich noch während des Krieges für ein ungeteiltes Deutschland mit der Möglichkeit einer souveränen Innen- und Außenpolitik einsetzte.

Theaterpläne

Die Materialien belegen, mit wie viel Aufwand Brecht von der Schweiz aus seine Theaterarbeit im Nachkriegsdeutschland vorbereitete. Er korrespondierte mit Verbündeten in Deutschland, mit Regisseuren, Schauspielern und mit deutschen wie russischen Kulturverantwortlichen. Alle seine Stücke wollte er in der neuen Situation des Kriegsendes überarbeiten. Einzig den "Arturo Ui" hielt er wegen seiner Form der Farce für geeignet, die Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft auf deutschen Bühnen zu leisten.

Bertolt Brecht Grab Dorotheenstädtischer Friedhof in Berlin
Das Grab Brechts und seiner Frau Helene Weigel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.Bild: AP

Die biografisch und zeitgeschichtlich äußerst aufschlussreichen dreihundertfünfzig Briefe zeigen einen trotz der erfolglosen Exiljahre selbstbewussten und durchsetzungsgewillten Dichter.

Die "Brecht-Sammlung Victor N. Cohen" wird vielen Forschern Auftrieb geben, liefert sie ihnen doch Material ungeahnter Dimension. Schon sind neue Buchveröffentlichungen angekündigt. Neben den erstmals edierten Briefen Bertolt Brechts an Helene Weigel aus den Jahren 1923 bis zum Tod 1956 wird der Suhrkamp Verlag noch in diesem Monat eine einhundertundfünfzigseitige Ergänzung der von Werner Hecht 1997 vorgelegten Chronik herausgeben, die Brechts Leben von Tag zu Tag dokumentiert. Der Chronist Hecht sieht die Forschung nach dem Wegfall der Systemkonfrontation vor reizvollen Aufgaben: "Es ist natürlich eine Besonderheit, in den Interpretationskampf geraten ist zwischen Ost und West, in dem sein Bild von beiden Seiten verzeichnet wurde. Jetzt wäre es an der Zeit, dass man ein sachliches Brecht-Bild malt. Da sind eben solche Funde von großem Wert."